Mittwoch, 11. November 2015

Agrarhandel zur nachhaltigen Ernährungssicherung? Teil 3

- eine Studie im Auftrag der Welthungerhilfe.

Ihr/Euer ergebenster MediaWatch-Redakteur hat sich für die Welthungerhilfe letztes Jahr lange mit Fragen des Weltagrarhandels auseinandergesetzt. Herausgekommen ist eine Handreichung, die eine ganze Reihe Grundlagen aufarbeitet - sowohl was die Empirie, als auch was die politökonomische Seite betrifft. Da mischt sich Bekanntes bunt mit Überraschungen. Hier die Links zu Teil 1 und Teil 2 der Serie.

Teil 3: Die unsichtbare Hand 

Heutzutage hat weltweit praktisch jeder Haushalt Zugang zu einem oder mehreren Faktor- oder Gütermärkten. Wer seine Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt oder Dienstleistungen oder Erzeugnisse anbietet, ersteht mit dem Verdienst wiederum andere Produkte und Dienstleistungen.


Doch Märkte dienen nicht nur dem Tausch. Sie koordinieren darüber hinaus Angebot und Nachfrage in Bezug auf die Menge und Qualität der produzierten Güter und Dienstleistungen. Diese Koordinationsfunktion spiegelt sich in der Preisfindung wider. Märkte – beziehungsweise die auf ihnen tätigen Akteure – stellen zudem sicher, dass Produkte und Leistungen zu dem Zeitpunkt, zu dem sie gebraucht werden, an den betreffenden Orten zur Verfügung stehen (Allokation).  Von daher ist es angemessen, gut funktionierende und von äußeren Faktoren wenig beeinflusste Märkte zu einer politischen Priorität zu machen.
Volkswirtschaftliche Grundannahmen
Von einem vollkommenen Markt sprechen Volkswirte, wenn alle Teilnehmer (Anbieter und Käufer) vollständig über die angebotenen Produkte und Marktgegebenheiten informiert sind, ihre Entscheidungen von Preis und Qualität abhängig machen (und z. B. nicht von persönlichen Präferenzen) und wenn sie mit hoher (theoretisch unendlich hoher) Geschwindigkeit reagieren können. Dieser letzte Punkt wirkt sehr abstrakt, ist aber für das Angebot auf Agrarmärkten von großer Bedeutung.

Zugangshindernisse zum Markt
Es bestehen eine ganze Reihe möglicher Zugangshindernisse zu Märkten. Je nach Situation kann es dabei um mangelnde Bildung, zu wenig verfügbares Kapital, Arbeitskraft und/oder Land gehen. Schlechte Infrastruktur kann den Marktzugang von Einzelnen oder gar ganzen Gruppen ebenso behindern wie mangelnder Zugang zu relevanten Informationen oder übermäßige Risiken. Weitere Marktzugangshindernisse können aufgrund etwa von Diskriminierung oder unzulänglichen rechtlichen Regeln und ihrer mangelhaften Umsetzung entstehen oder weil andere bedeutende Märkte (Arbeits- und/oder Finanzmarkt) nur schlecht funktionieren. Wenn man z. B. keinen Zugang zu Kapital hat, kann sich dies als Hindernis für die Erzeugung und/oder den Verkauf der eigenen landwirtschaftlichen Produkte erweisen. Auch jede denkbare Kombination der oben genannten Einschränkungen kann zu schwerwiegenden Marktzugangshindernissen von Einzelnen oder Gruppen führen.

Marktversagen
Als Marktversagen werden Situationen bezeichnet, in denen eine oder mehrere der oben genannten Grundannahmen für funktionierende Märkte nicht erfüllt sind. Haben einige Marktteilnehmer z. B. einen Informationsvorsprung, können sie diesen nutzen, um Gewinne zu realisieren. Auf vielen Märkten steht solches Verhalten unter Strafe – etwa beim Insiderhandel an der Börse. Monopol- oder oligopolartige Strukturen ziehen ebenfalls Marktversagen nach sich: Denn die verbliebenen Teilnehmer hebeln das Wettbewerbsprinzip gerne aus, indem sie sich untereinander absprechen. Dieses Verhalten ist ebenfalls verboten.

Besonderheiten von Agrarmärkten
Nahrungsmittel sind für das menschliche Überleben unverzichtbar. Diese scheinbar triviale Tatsache hat für Lebensmittelmärkte jedoch bedeutsame Folgen. Die offensichtlichste ist, dass Menschen einfach regelmäßig etwas zu essen kaufen müssen. Die Nachfrage nach Nahrungsmitteln ist daher in Bezug auf den Preis nicht „elastisch“. Das heißt: Auch größere Preisänderungen, egal ob Preissenkung oder -steigerung, werden nur geringe Auswirkungen auf die verkauften Mengen haben.
  • Verzicht ist nicht möglich. Daraus folgt, dass auch geringfügig verringerte Angebotsmengen hohe Preisaufschläge nach sich ziehen können.
  • Umgekehrt bleiben dennoch alle diejenigen hungrig oder unterernährt, die sich Nahrungsmittel zum gegebenen Preis aufgrund zu niedriger Einkommen nicht (in ausreichender Menge und/oder Qualität) leisten können. Das gilt auch dann, wenn eigentlich genügend Lebensmittel am Markt zur Verfügung stehen.
Auf andere Produkte auszuweichen (Substitution) – etwa Cassava oder Hirse statt Reis oder Weizen zu kaufen – hilft kaum weiter. Denn die preiswerteren Erzeugnisse sind ernährungsphysiologisch oft nicht vollwertig. Ihnen fehlen wichtige Nährstoffe wie z. B. essenzielle Aminosäuren oder Vitamine. Wenn das Einkommen es nicht erlaubt, diese Nährstoffe in anderen Produkten zuzukaufen (etwa Bohnen), droht Mangel- oder Unterernährung. Solcherart erzwungener Verzicht auf eine ausreichende Ernährung stellt eine existenzielle Bedrohung dar und wird daher als Menschenrechtsverletzung gewertet. Bei fast allen anderen Waren oder Dienstleistungen (z. B. Fenster, Friseur, Fernseher) ist Verzicht dagegen prinzipiell möglich, die Preiselastizität demzufolge auch entsprechend größer.


Die Mehrheit der ländlichen Armen sind (netto) Käufer von Nahrungsmitteln – sehr oft auch dann, wenn sie selber Nahrungsmittel erzeugen. Dabei hängen ihre Zahl und ihre Situation vor allem von der Verteilung des Landbesitzes, der Produktivität der Flächen, der verfügbaren Arbeitsmenge, den Anbausystemen und der Art der angebauten Feldfrüchte ab. 
  1. In Bangladesch z. B. sind nur acht Prozent der als arm eingestuften Kleinbauern in der Lage, Reisüberschüsse zu erwirtschaften und zu verkaufen. Landlose Haushalte stellen hier mehr als die Hälfte aller ländlichen Armen. Sie geben durchschnittlich mehr als ein Viertel ihrer Einkommen für Reis aus. Da Reis ein international gehandeltes Nahrungsmittel ist, sind diese Menschen Preisschwankungen auf dem Weltmarkt in besonderer Weise ausgeliefert.
  2. In Sambia gibt es wesentlich weniger landlose Arme (sieben Prozent), aber wesentlich mehr Kleinbauern, die Mais und Weizen zukaufen müssen (fast 19 Prozent aller ländlichen Armen) und die der Entwicklung der internationalen Märkte daher ebenfalls in besonderem Maße ausgesetzt sind. Überschüsse können auch in Sambia nur 13 Prozent aller als arm eingestuften Kleinbauern erwirtschaften.
  3. In Bolivien und Äthiopien sind auch jeweils etwa 30 Prozent der armen Kleinbauern auf Zukäufe angewiesen. Da hier aber vorwiegend Kartoffeln (Bolivien) sowie Hirse und Teff (Äthiopien) konsumiert werden, können sich die Betroffenen auf den (weit weniger volatilen) lokalen und regionalen Märkten versorgen.
  4. In Ländern wie Kambodscha, Vietnam, Madagaskar und Marokko, wo es viele arme Kleinbauern gibt, die Überschüsse zum Verkauf anbieten können, sind es diese Gruppen, deren Einkommen am stärksten von der Preisentwicklung auf den (internationalen) Märkten abhängig sind.
Nicht nur die Nachfrage, auch das Angebot auf den Agrarmärkten ist besonderen Bedingungen unterworfen, denn die Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte ist sehr unelastisch: Die Reaktionen, die den Erzeugern möglich sind, um ihre Produktion auszuweiten (oder zu vermindern), laufen alle stark zeitverzögert ab (Intensivierung der Produktion, Urbarmachung neuer Flächen, Bau von Bewässerungssystemen). Selbst wenn es sich um vergleichsweise überschaubare Neuerungen wie bessere Maschinen, modernes Saatgut, den vermehrten oder verringerten Düngereinsatz oder leistungs- bzw. anpassungsfähigere Tiere handelt, werden deren Auswirkungen auf die Produktion in der Regel frühestens nach einem Jahr spürbar.

Umgekehrt ist es Farmern kaum möglich, durch eine Verringerung des Produktionsumfangs Kosten zu senken. Eher trifft das Gegenteil zu: Wenn z. B. Fleisch gerade so preiswert ist, dass ein Verkauf von Schlachtvieh keinen Gewinn bringt, ergibt es keinen Sinn, ihn zu verschieben. Denn das Vieh muss weiter gefüttert werden und verursacht so zusätzliche Kosten.

Die Rolle der Unternehmen
Multinationale Unternehmen sind die mit weitem Abstand bedeutendsten Akteure auf den Weltagrarmärkten. Ein bedeutender Teil des gesamten Welthandels spielt sich innerhalb transnationaler Konzerne ab (intra-firm trade). Eine Schätzung beziffert den Anteil des Intra-Firmen-Handels auf 45 Prozent des gesamten Handels zwischen den Industrieländern,  eine andere den intra-firm trade am Welthandel auf mindestens 35 Prozent. Das trifft wahrscheinlich auch auf die Weltagrarmärkte zu: Denn der UNCTAD-Transnationalitätsindex der Nahrungsmittelhersteller unter den 100 größten nicht-finanziellen Firmen ist mit 73,3 sehr hoch und wird nur noch von Medien- und Mischkonzernen übertroffen.

Ökonomische Macht/Marktmacht
Weltweit dominieren heutzutage wenige große Konzerne bedeutende Teile der Produktions- und Lieferketten für die Nahrungsmittelversorgung. Zudem sind Chemiefirmen zu wichtigen Saatgutproduzenten geworden und zunehmend besser mit Getreidehändlern und den großen Lebensmittelherstellern vernetzt. Oft kauft, verschifft und vermahlt dasselbe Unternehmen Getreide, um es dann zu Viehfutter oder für den menschlichen Verzehr aufzubereiten. Dabei wird die Ware meist über mehrere Grenzen transportiert. Außer wenigen verbliebenen staatlichen Vermarktungsagenturen und einer Reihe humanitärer Akteure sind einzig große multinationale Unternehmen an den Weltagrarmärkten vertreten.


Wenn die vier größten Unternehmen in einem Marktsegment mehr als 40 Prozent der Umsätze kontrollieren (CR4) , gilt das Wirtschaftswissenschaftlern bereits als bedenklich, da es den Wettbewerb in dem betreffenden Marktsegment gefährdet. Legt man diesen Maßstab zugrunde, sind die Beispiele für übermäßige Konzentration von Marktmacht (horizontale Integration; monopolartige Stellung) Legion. In Lateinamerika z. B. verfügen oft einige wenige Unternehmen über bedeutende Teile der Wertschöpfungsketten:
  • Nur vier Unternehmen kontrollieren 75 Prozent des brasilianischen Marktes für Hybridmais.
  • In Kolumbien beherrschen vier Firmen 72 Prozent des Marktes für Öle und vier andere 94 Prozent des Handels mit Kartoffeln, Yucca und Bananen.
  • In El Salvador teilen zwei Müllereibetriebe den Weizenmehlmarkt unter sich auf (97 Prozent) und vier Firmen setzen 87 Prozent aller Molkereiprodukte in dem zentralamerikanischen Land um.
Global kontrollieren ebenfalls oft wenige Firmen bedeutende Bereiche des internationalen Handels mit Agrargütern. Und sie fusionieren weiter:
  • So werden z. B. 40 Prozent des weltweiten Kaffees von nur drei Firmen geröstet (Nestlé, Kraft und Sara Lee). Der Welthandel mit den begehrten Bohnen wird zu 55 Prozent von den Firmen Neumann, Volcafe, ECOM sowie Nestlé und Kraft abgewi-ckelt.  Durch die Fusion der Kaffeesparte der US-Firma Mondelez (z. B. Jacobs, Tas-simo) mit D.E. Master Blenders (z. B. Douwe Egberts) entsteht 2014 ein weiterer Kaffeeriese mit über 7 Mrd. US-Dollar Umsatz.
  • Die Unternehmen Chiquita, Fyffes, Del Monte und Dole teilen 80 Prozent des welt-weiten Bananenhandels unter sich auf – wobei Chiquita im März 2014 Fyffes über-nommen hat.
  • Der Weltmarktführer in der Verarbeitung von Zucker, Copersucar aus Brasilien, und der US-amerikanische Lebensmittelkonzern Cargill wollen in der zweiten Jahreshälfte 2014 ein Joint Venture eingehen. Copersucar verfügt allein in Brasilien über fast 100 Zuckerrohrmühlen und gilt als weltweit größter Händler von Zucker und Ethanol. Der US-amerikanische Riese Cargill gilt als das weltweit größte Unternehmen im Agrarhandel, erzielt einen Jahresumsatz von knapp 134 Mrd. US-Dollar und ist in 65 Ländern aktiv.
  • In den Marktsegmenten Getreide, Ölsaaten, Sojabohnen und Palmöl dominieren vier „ABCD-Firmen“, Archer Daniels Midland, Bunge, Cargill sowie Louis Dreyfus, gemeinsam die Weltmärkte. 
Kartelle sind auch auf deutschen Nahrungsmittelmärkten ein Problem:
  • Mitte Februar 2014 wurden Südzucker, Nordzucker sowie Pfeifer & Langen zu einer Zahlung von zusammengenommen 280 Mio. Euro Bußgeld verurteilt. Das Bundeskartellamt hatte den drei Zuckerherstellern Absprachen über Verkaufsgebiete, Quoten und Preise nachgewiesen.
  • Nur wenige Wochen später verhängte das Bundeskartellamt wegen verbotener Preisabsprachen auf dem Biermarkt eine Strafe von 231,2 Mio. Euro. Ermittlungen hatten ergeben, dass in der Branche Preiserhöhungen für Fass- und Flaschenbier abgesprochen worden waren.
  • Im Juli 2014 verhängte das Bundeskartellamt 338 Mio. Euro Bußgelder gegen 21 Wursthersteller und zahlreiche Führungskräfte in der Branche. Die Firmen hätten sich jahrelang über Preisspannen für Produktgruppen wie Brühwürste oder Schinken abgestimmt und so höhere Preise durchgesetzt, so das Ermittlungsergebnis der Kartellbehörde.
In fast allen westlichen Ländern verfügen zudem die großen Supermarktkonzerne über eine erhebliche Konzentration von Marktmacht. In Deutschland vereinigten die vier größten Ketten 2011 etwa 85 Prozent aller Nahrungsmittelumsätze auf sich. Ihre Marktmacht rührt vor allem daher, dass die Angebotsseite – zumindest soweit es sich um bäuerliche Betriebe handelt – stark fragmentiert ist und sie Millionen Abnehmer haben, die sich noch weniger organisieren können. 

Zu beachten ist beim Thema Marktmacht auch, dass es großen Unternehmen mittels vertikaler Integration mehrerer Wertschöpfungsstufen möglich ist, Verbraucher, Mitbewerber und staatliche Stellen über die tatsächlichen Herstellungskosten für ihre Erzeugnisse im Unklaren zu lassen oder zu täuschen.  

Politische Macht
Mit der Konzentration von Marktmacht geht der privilegierte Zugang zu Informationen und zu politischer Macht (Lobbying) einher. Diese Hebel können genutzt werden, um unliebsame Mitbewerber aus den Märkten fernzuhalten. Die großen transnationalen Konzerne im Agrobusiness haben Zugang zu Informationen, die fast allen anderen Akteuren – einschließlich der meisten Regierungen von Entwicklungsländern – vorenthalten bleiben.

Gleichzeitig ist es den großen Lebensmittelkonzernen und Agrarmultis – wie vielen anderen Branchen auch – gelungen, Gehör bei der überwältigenden Mehrheit der maßgeblichen Politiker sowohl in den Industrie- als auch in Schwellenländern mit bedeutenden Agrarexporten (Brasilien) zu finden. So gelingt es ihnen, ihre wirtschaftlichen Interessen in den Agenden der politischen Unterhändler bei Handelsgesprächen – ob bi- oder multilateral – zu verankern. 

Entsprechend gering ist andererseits der politische und wirtschaftliche Einfluss von (Klein-)Bauern. Den Produzenten werden die Abnahmepreise oft von mächtigeren Marktteilneh-mern vorgeschrieben, was auch daran liegt, dass landwirtschaftliche Produktionssysteme nur schlecht auf Preissignale reagieren können. Wenn der Absatz gesichert ist, nehmen Kleinbauern daher niedrigere Abnahmepreise in Kauf – vor allem, wenn sie nicht auf alternative wirtschaftliche Aktivitäten ausweichen können.

Weiter zu Teil 4.

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