Montag, 16. November 2015

Agrarhandel zur nachhaltigen Ernährungssicherung? Teil 4

- eine Studie im Auftrag der Welthungerhilfe.

Ihr/Euer ergebenster MediaWatch-Redakteur hat sich für die Welthungerhilfe letztes Jahr lange mit Fragen des Weltagrarhandels auseinandergesetzt. Herausgekommen ist eine Handreichung, die eine ganze Reihe Grundlagen aufarbeitet - sowohl was die Empirie, als auch was die politökonomische Seite betrifft. Da mischt sich Bekanntes bunt mit Überraschungen. Hier die Links zu Teil 1, Teil 2 und Teil 3 der Serie.

Teil 4: Die unsichtbare Hand 2

Auswirkungen staatlicher Eingriffe
Ein Blick auf wesentliche Auswirkungen verschiedener staatlicher Eingriffe zeigt, dass Entwicklungsländer dazu neigen, ihre Bauern mit relativ hohen Steuern zu belegen (insbesondere wenn jene für den Export produzieren). Diese Steuern stellen oft eine wichtige Einkommensquelle für die betreffenden Staaten dar. Doch sind sie nicht geeignet, zur Bekämpfung des Hungers beizutragen, denn sie erhöhen die Preise von Agrarprodukten – und zwar ohne dass die Bauern Produktionsanreize erhalten.

Die Industrieländer subventionieren ihre Agrarsektoren dagegen üppig: Die EU wird den Agrarsektor auf absehbare Zeit mit jährlich 60 Mrd. Euro unterstützen  – vor allem in Form von Direktzahlungen.  Derartige Beihilfen verschärfen die ohnehin schon kaum zu überbrückenden Ungleichheiten zwischen den landwirtschaftlichen Produktivitätsniveaus in Süd und Nord und begünstigen zumindest innerhalb Deutschlands die wettbewerbsstärkeren Betriebe – sofern die Beihilfen nicht ohnehin an Genossenschaften und Vermarktungsunternehmen ausgezahlt werden.

Wertschöpfung pro Arbeitskraft im Agrarsektor in US-Dollar 1991 und 2007

Auch die USA unterstützen ihre Landwirte mit substanziellen Beträgen: Zwischen 1995 und 2012 haben US-Farmer jährlich circa 20 Mrd. US-Dollar erhalten, wobei Versicherungsbeihilfen inzwischen eine größere Rolle spielen als direkte Einkommensstützung.  Erhebliche Mittel werden auch in Südkorea und Japan ausgezahlt.

Subventionen an Bauern zu zahlen, wird zunehmend auch in Schwellenländern praktiziert: Brasilien etwa schüttete in der Ernteperiode 2013/14 über das Programm PRONAMP 13,21 Mrd. Reais an landwirtschaftliche Betriebe mittlerer Größe aus. Nach aktuellen Wechselkursen sind das umgerechnet immerhin 5,6 Mrd. US-Dollar. Auch diese Politik ist nicht geeignet, Hunger wirkungsvoll zu bekämpfen, denn ausgerechnet die Bauern, die ohnehin am besten verdienen und für die kaufkräftigsten Märkte produzieren, werden durch Subventionen zusätzlich begünstigt.

Subventionen werden heutzutage (WTO-konform) fast ausschließlich als direkte Zuzahlungen – also unabhängig von der Produktion – ausgezahlt. Direkte Transfers verursachen deutlich geringere Marktverzerrungen als Einfuhrzölle und Produkt- oder gar Exportsubventionen – was der politischen Intention entspricht. Dennoch moniert die Weltbank, dass auch sie Produktionsanreize setzen. Sichere Zusatzeinkommen können die Risikobereitschaft der Bauern erhöhen (Wohlstandseffekt) und verringern die Volatilität bäuerlicher Einnahmen (Versicherungseffekt). Zudem erhalten Bauern, die regelmäßig unterstützt werden, von den Banken eher Kredite.

Wenn der Handel mit Agrarprodukten vollständig liberalisiert würde, d. h. wenn sämtliche Handelshemmnisse und Subventionen verschwänden, käme es bei einer ganzen Reihe von Erzeugnissen zu Preissteigerungen, die zum Teil ganz erheblich ausfallen würden. Baumwolle etwa könnte um bis zu 20 Prozent teurer werden, Ölsaaten um 15 Prozent, Molkereiprodukte schätzungsweise um 12 Prozent, Weizen immer noch um fünf und Reis sowie verarbeitetes Fleisch um über vier Prozent. Bei Obst und Gemüse könnte diese Preissteigerung fast drei Prozent erreichen. Entsprechend würden die Handelsanteile derjenigen Entwicklungsländer steigen, die diese Produkte preiswert anbieten (können): Bei Baumwolle würde ihr Anteil über ein Viertel steigen, bei Ölsaaten um mehr als ein Drittel, bei Weizen um 21 Prozent, bei verarbeitetem Fleisch um schätzungsweise 18 Prozent, bei Molkereiprodukten um sieben sowie bei Obst und Gemüse um vier Prozent.

Dennoch sieht die FAO die Liberalisierungsagenda kritisch: Die Annahme, dass eine breit angelegte Handelsliberalisierung armen Ländern in großem Umfang nutzen kann, sei in dieser simplifizierenden Sichtweise nicht haltbar. Zwar stimme es, dass eine Liberalisierung des Handelsregimes im Agrarbereich Preissteigerungen und damit prinzipiell auch Produktionsanreize nach sich ziehen würde. Da die Armen aber bereits heute schon einen überdurchschnittlich großen Anteil ihrer Einkommen für Lebensmittel ausgeben, gelten der Organisation die oft beschworenen Wohlfahrtseffekte der Handelsliberalisierung keineswegs als ausgemacht. Auch ein gegenteiliger Effekt sei durchaus denkbar. Zudem verbleibe der Löwenanteil der möglichen Wohlfahrtseffekte wahrscheinlich bei den Exporteuren landwirtschaftlicher Produkte – das sind außer einer Reihe von Industrieländern vor allem die wohlhabenderen Entwicklungs- und Schwellenländer Asiens und Lateinamerikas.

Produktionssubventionen vs. Sozialpolitik
In den folgenden Grafiken werden das Angebot durch eine grüne Linie und die Nachfrage nach Nahrungsmitteln durch eine rote Linie dargestellt. In einem Markt (z. B. in einem Land) treffen sich Angebot und Nachfrage im Gleichgewichtspreis (x). Da aber manche Menschen mangels Einkommen zu diesem Preisniveau keine oder nicht ausreichend Nahrungsmittel zum Leben kaufen können, muss als dritte Größe der Nahrungsmittelbedarf (blaue Linie) eingeführt werden. Dieser stellt allerdings keine volkswirtschaftliche, sondern eine naturwissenschaftliche Größe dar, die sich aus dem Kalorien- und Nährstoffbedarf einer Bevölkerung von bekannter Größe ableitet. Deren biologischer Nahrungsmittelbedarf ist bei jedem Preisniveau konstant. Die Differenz zwischen der Menge, die beim Gleichgewichtspreis verkauft wird, und dem Bedarf (hier Bedarfslücke genannt) beschreibt das Ausmaß von Unter-, Fehlernährung und Hunger, das trotz eines funktionierenden Marktes entsteht. 

Wenn der Bedarf an Nahrungsmitteln größer ist als die Nachfrage:

Wenn Menschen über keinen oder nur über unzureichenden Zugang zu Nahrungsmitteln verfügen, liegt eine Menschenrechtsverletzung vor, und staatliches Handeln wird unabdingbar (nächste Abbildung). Prinzipiell verfügen Staaten über zwei Möglichkeiten, einzugreifen: Sie können die Nachfrage erhöhen. Das geht am einfachsten, indem sie die Einkommen ihrer Bürger mittels Transferzahlungen wie z. B. Sozialleistungen oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen steigern. Diese Situation spiegelt Punkt 1 (P1) wider. Oder ein Staat kann die Produktion von Nahrungsmitteln subventionieren. Das erhöht das am Markt vorhandene Angebot, was die Preise senkt und bei Punkt 2 (P2) zu einer Befriedigung des Bedarfs führt. Auch eine beliebige Kombination aus beiden Politiken ist möglich. Grafisch werden die daraus resultierenden Ergebnisse in der folgenden Abbildung durch den fett markierten Teil der senkrechten Bedarfslinie repräsentiert, die zwischen P1 und P2 liegen. Dabei sind die Kosten, die zur Sättigung des Bedarfs aufgewandt werden müssen, theoretisch immer gleich groß.

Über die Möglichkeiten, den Bedarf mit dem Angebot und/oder der Nachfrage in Einklang zu bringen:

Doch ist es praktikabler, gut gezielte Einkommenstransfers an arme Bevölkerungsgruppen auszuteilen, anstatt die Produktion zu subventionieren. Denn gut gezielte Einkommenstransfers schaffen Nachfrage auch in ländlichen Regionen – also genau dort, wo sie zur Schaffung neuer lokaler Nahrungsmittelmärkte beitragen kann. Diese neue Nachfrage wird in der Regel in höheren Preisen (P1) resultieren und so Produktionsanreize für die Bauern bieten. So kann längerfristig mit einer Ausdehnung des Nahrungsmittelangebots, einer Belebung der ländlichen Arbeitsmärkte und Entwicklung gerechnet werden. Und schließlich werden Rückkoppelungseffekte (sinkende Preise durch verbessertes Angebot, steigende Löhne und Einnahmen) auch dem Preisanstieg entgegenwirken. Einkommenstransfers sind WTO-konform, relativ einfach und preiswert zu verwalten und erzeugen keine Verschwendung, wenn sie gut gezielt sind. Direkte Geldzuwendungen sind auch in der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit schon längst ein anerkanntes Mittel der Armutsbekämpfung.

Produktionssubventionen sind etwa mittels direkt unterstützter Ankaufspreise, garantierter Mindestpreise (Interventionspreis), durch Direktzahlungen an Produzenten oder durch die Subventionierung der eingesetzten Faktoren (z. B. Dünger, Kapital), aber auch mittels Steuererleichterungen möglich.  Zwar schützen Produktionssubventionen vor ausländischer Konkurrenz, weil diese zu diesen niedrigen Preisen nicht auf dem subventionierten Markt agieren kann. Die aus Produktsubventionen resultierenden, niedrigeren Preise (P2) machen den Agrarsektor allerdings von staatlicher Unterstützung abhängig.

Auch ein Zuviel an Nahrungsmitteln verursacht Probleme
Mit dem hier vorgestellten, stark vereinfachten Modell lässt sich ebenfalls recht anschaulich demonstrieren, dass deregulierte Märkte in der Ernährungswirtschaft auch dann nicht wünschenswert sind, wenn alle Menschen über ausreichende Einkommen verfügen, um ihren Bedarf an Lebensmitteln zu decken. Die nächste Abbildung zeigt eine Situation, die mehr oder minder wohl auf alle entwickelten Länder zutrifft: Hier kaufen die Menschen mehr Lebensmittel, als sie eigentlich brauchen (folglich befindet sich der Gleichgewichtspreis jetzt rechts von der Bedarfslinie).

Diese – in der Grafik als „Überkonsum“ bezeichnete – Differenz zwischen dem Bedarf und dem Gleichgewichtspreis schlägt in Form von Verschwendung (Lebensmittel auf dem Müll), vor allem aber als übermäßiger Konsum zu Buche, der wiederum Erkrankungen (Übergewicht, Fettleibigkeit, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen) nach sich zieht. So entstehen – besonders im Gesundheitswesen – gesellschaftliche Kosten, die eigentlich vermeidbar wären. Daher ist es konsequent, eine Abgabe oder Steuer auf Zucker und/oder Fette einzuführen, um zu energiehaltige Nahrungsmittel zu verteuern.

Wenn Menschen mehr Lebensmittel kaufen, als sie brauchen:

  • Gut funktionierende Märkte sollten zu den politischen Prioritäten aller Staaten gehören. Dafür müssen Staaten jedoch eine ganze Reihe ordnungspolitischer Voraussetzungen schaffen – vor allem, um zu große Konzentration von Marktmacht zu verhindern. Es könnte sinnvoll sein, eine internationale Kartellbehörde zu schaffen, die Regulierungsmängel und Umsetzungsschwächen im Kartellrecht in Entwicklungsländern und mangelnden politischen Willen in den Industrienationen bei international bedeutenden Firmenzusammenschlüssen ausgleichen hilft.
  • Entwicklungs- und Schwellenländer sollten den politischen und wirtschaftlichen Einfluss von (Klein-)Bauern stärken, um Hunger und Armut zu bekämpfen. Gleichzeitig gilt es, die politische Macht der großen multinationalen Konzerne weltweit zurückzudrängen. Diesbezüglich haben die Industrienationen erhebliche Bringschuld.
  • Um das Menschenrecht auf Nahrung zu verwirklichen, müssen die Staaten – einzeln und in internationaler Zusammenarbeit – Mechanismen schaffen, die eine ausreichende Versorgung aller Menschen mit Nahrungsmitteln sicherstellen. Dazu sind Einkommenstransfers das Mittel der Wahl. Insofern, als arme Kleinbauern und andere ländliche Arme in Entwicklungsländern ohnehin zu den Gruppen gehören, die in den Genuss derartiger Einkommenstransfers kommen (sollten), können zusätzliche Subventionen höchstens ausnahmsweise und zeitweilig einen Beitrag zur Ernährungssicherung leisten.
  • Die Industrie- und Schwellenländer sollten ihre Subventionspraxis überdenken – vor allem angesichts ihres ohnehin bestehenden Produktivitätsvorsprungs im Agrarbereich und bei der Herstellung von Lebensmitteln. Bäuerliche Dienstleistungen, die gesellschaftlich erwünscht sind, wie z. B. Landschaftspflege und Umweltschutzmaßnahmen, müssen allerdings angemessen vergütet werden.
  • Unabdingbar bleibt es sowohl für Entwicklungs- wie Schwellen- und Industrieländer, eine strategische Nahrungsmittelreserve vorzuhalten. Sie ist für Not- und Katastrophenfälle unverzichtbar.  
Weiter zu Teil 5.

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