Donnerstag, 3. August 2017

Ein Besuch im Flüchtlingslager Al Fawwar

Text und Fotos von Ina Zeuch

Al Fawwar ist eines von der UN registrierten Flüchtlingslager in den besetzten Gebieten in Palästina (Westbank) und gehört mit ca. 9.500 Einwohnern zu den kleineren Camps. Es wurde 1949 von der UN eingerichtet, um einen Teil der 700.000 Menschen aufzunehmen, die nach der Staatsgründung Israels fliehen mussten und steht heute unter der Obhut der Palästinensischen Autonomiebehörde. Neben den 19 Flüchtlingslagern in der Westbank gibt es noch acht weitere Lager in Gaza. Zehn neue Lager entstanden nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967, bei der nach Schätzungen der UN weitere 300.000 Flüchtlinge hinzukamen. Aber auch in Jordanien (zehn Lager) und Syrien (zehn Lager) sowie im Libanon (zwölf Lager) leben viele palästinensische Flüchtlinge.

Acht Kilometer südlich von Hebron gelegen ist unsere Fahrt nach Al Fawwar, die wir in den südlichen Hebronhügeln wohnen, nur von kurzer Dauer. Vorher haben wir Frau Khoulod, einem unserer bewährten Kontakte im Lager, von unserem Besuch unterrichtet. Sie ist Englischlehrerin, so dass wir uns uneingeschränkt mit ihr unterhalten können und sie uns auch bei den Interviews der Bewohner übersetzen kann. Denn das ist der Grund unseres Besuches: Neben den Nachkommen der Naqba-Flüchtlinge vielleicht tatsächlich noch den einen oder anderen Zeugen der Vertreibungen nach der Staatsgründung Israels von 1948 zu finden und damit aus erster Hand über die Ereignisse von damals erfahren zu können. Schon als wir bei der Ankunft nach dem Weg fragen, wird unser Auto umringt von Kindern. 
 
Ihnen scheint jede Abwechslung willkommen und wann kommt hier außer der israelischen Armee schon einmal jemand vorbei. Die Camps gelten als Hort der Unruhen und Rekrutierungen von Aufständischen. 45 Prozent von Al Fawwar sind unter 15 Jahren, eine weitgehende No-Future-Generation, deren Frustration häufig zur Präsenz und Auseinandersetzungen mit der israelischen Armee führt. So ist der beiläufige Effekt jeden friedlichen Besuchs, dass die Menschen hier gesehen werden wollen, um sich nicht völlig von der Welt vergessen zu fühlen. Al Fawwar ist inzwischen wie die meisten anderen Lager von einer Zeltstadt zu einer richtigen Ansiedlung mutiert. Deswegen ist der erste Eindruck, den wir von hier gewinnen, zunächst ganz passabel und deckt sich nicht mit der Vorstellung, die wir von einem Flüchtlingslager haben. An der Hauptstraße reihen sich Geschäfte aller Art, die Häuser sind ein-bis dreistöckig und aus Stein und Zement, so dass erst einmal alles wie in jeder anderen Kleinstadt in der Westbank aussieht. 
Aber schon der Weg zu Frau Khoulods Haus belehrt uns eines Besseren. Neben den auffallenden Graffitis an den Wänden, die allesamt politischer Natur sind, nehmen wir die erdrückende Enge wahr, die - kaum einen Steinwurf von der Hauptstraße entfernt – das alles beherrschende Merkmal hier ist. Eine unverputzte enge Treppe inmitten der dichten Bebauung führt in die Wohnung der Familie Khoulod. Wir werden in das recht große Wohnzimmer für Besucher gelotst, in dem es keine Fenster gibt. Die Wandöffnungen dafür sind mit Plastik und Vorhängen verhängt. Die obligatorische palästinensische Gastfreundschaft sieht ein opulentes Mahl für uns vor, dessen Vielfalt uns die Sprache verschlägt. 
Graffiti in Al Fawwar
Dann geht es durch die erstickend engen Gassen zu einer Frau, die die Naqba als acht-oder neunjähriges Kind noch selber erlebt haben könnte. Auch hier füllt sich der Raum kurz nach unserer Ankunft mit jeder Menge Kinder, aber auch Familienmitgliedern bis hin zu einer Reihe rauchender junger Männer und einiger Nachbarn. Zum Schluss zähle ich an die dreißig Personen. Ghada Nahed, die Frau, die wir interviewen, könnte um die Achtzig sein. Ihr genaues Alter kennt sie nicht. Sie ist schwerhörig und ihre Verwandten schreien ihr verlegen lachend unsere Fragen zu.

Sie ist so überwältigt davon, plötzlich im Mittelpunkt zu stehen, dass sie lange braucht, um ins Erzählen zu kommen. Zum Zeitpunkt der Naqba lebte sie in der Nähe von Jerusalem in einem kleinen Dorf. Sie erinnert sich, dass ihrer Familie nicht genügend Zeit blieb, alle Sachen zu packen. Männer hätten sie aus ihren Häusern vertrieben. Offensichtlich ging alles gewaltsam vor sich. Mit Tränen in den Augen berichtet sie, wie eine Mutter ihr Kind verloren hatte und es im Chaos des Aufbruchs suchte, dann aber in den Bus zum Abtransport gepfercht wurde. 

Graffitis in Al Fawwar
Das Gespräch wird zunehmend emotionaler, eine ganze Reihe anderer mischen sich ein und geben ihrem Hass auf Israel Ausdruck. Völlig unbrauchbar wird unser Interview schließlich, als eine Kollegin von Frau Khoulod, eine Englischlehrerin in derselben Schule, die Übersetzung übernimmt und eigentlich nur noch ihre eigene Meinung wiedergibt. Die Schlüssel, mit dem viele der Flüchtlinge ihre Häuser abgeschlossen hatten, um eines Tages wiederzukommen, hätten sie noch heute, sagt sie statt der Frau, deren Geschichte wir eigentlich hören wollen. Das Schlüsselmotiv findet sich als das Symbol der Vertreibung schlechthin auch in zahlreichen Graffitis wieder und gibt dem ungebrochenen Rückkehrwillen der Bewohner hier Ausdruck. Als die Frau heftig zu weinen anfängt und immer wieder meine Hände an sich drückt, brechen wir das Interview ab. Begleitet von zahlreichen Parolen zur allgemeinen Ungerechtigkeit der Lage verlassen wir das Haus. 

Gedenktafel für den 2013 von der IDF erschossenen
Khalil Muhammad Almad Al Anati, 23 Jahre
Auf dem Weg zum nächsten möglichen Zeugen zeigt uns Frau Khoulod die Gedenktafel des 2014 von IDF-Soldaten erschossenen Khalil Muhammad Almad Al Anati – laut der Eltern des Jungen geschah dies ohne vorherige Provokation. 2013 wurde der 23 jährige Mahmoud Al Titi ebenfalls von Soldaten in einer Auseinandersetzung erschossen. Die Untersuchung dieser außergerichtlichen Tötung wurde laut UNOCHA inzwischen ergebnislos zu den Akten gelegt. Unser nächster Besuch gilt Faris Hamad, einem alten Mann, der um die neunzig sein dürfte. Auch er ist zunächst überwältigt von unserem Interesse und fragt immer wieder, woher wir kämen. Dann sitzen wir wieder im Wohnzimmer, wo uns Tee und Kaffee gereicht wird. 
Graffiti vom 2014 erschossenen Khalil Muhammad
Eine Reihe Kinder reißen sich darum, uns bedienen zu dürfen. Kekse werden rasch besorgt und schließlich betritt Faris Hamad in vollem Ornat das Zimmer. Er hat sich einen Kaftan übergezogen und eine Kufiya, dem traditionellen Palästinesertuch um den Kopf,  mit Kordel umgebunden. Seine Erinnerungen sind etwas präziser als die der Frau, wahrscheinlich, weil er zum Zeitpunkt der Vertreibung auch deutlich älter war. Er kann sich sogar an englische Kolonialbeamte erinnern, die er sehr freundlich fand, weil einer von ihnen ihm Schokolade schenkte. „Als Kind“, sagt er „war das Ganze für mich mehr wie ein Abenteuer. Ich fuhr mit einem Bus aus meinem Dorf, das ich zuvor noch nie verlassen hatte. Erst später wurde mir nach und nach klar, dass wir vertrieben worden waren und dass wir nicht zurückkehren werden.“

„Die erste Zeit in den Zelten, die von der UN zur Verfügung gestellt wurden, war schwer. Es gab noch keine Schulen, keinen Platz für Kinder zum Spielen. Immer ging es nur um die nackte Existenz. Wir froren und waren vollkommen von der UN abhängig.“ „Am Anfang dachten wir, dass sei alles nur für kurze Zeit“, fährt er leise fort. "Aber dann haben wir von der UN das Baumaterial für die ersten festen einstöckigen Häuser bekommen und da haben wir gewusst, dass wir nach lange hier bleiben müssen.“ Mit jeder weiteren Entwicklung von Al Fawwar als Stadt wurde das Leben im Improvisorium für ihn weiter gefestigt. Die Befreiung und den eigenen Staat Palästina werde er wohl nicht mehr erleben. Es sei seine Familie, die ihm Kraft gebe, seine vielen Kinder und Enkel. „Sie werden vielleicht irgendwann keine Flüchtlinge mehr im eigenen Land sein.“ 
Faris Hamad mit seinen Enkelinnen und Urenkelinnen
Auf dem Rückweg zur Hauptstraße winken uns zwei Männer, die vor einem Lebensmittelladen sitzen, zu sich heran. Sie fragen uns nach dem Grund unseres Besuchs und fangen dann selber an, von ihrem Leben im Lager zu berichten. Sie gehören zur ersten Generation nach der Naqba, sie sind mit ihren Eltern hergekommen und hier aufgewachsen. Aber der Geschäftsinhaber verbrachte einige Jahre in Jordanien, wo er studierte. Obwohl Jordanien das einzige arabische Land ist, das Palästinensern die Staatsbürgerschaft anbietet - ein Privileg, das zur Zeit gerade wieder einigen entzogen wird - wollte er nicht im Ausland bleiben. „Ich wollte meine Familie nicht im Stich lassen und zu ihrem Unterhalt beitragen. Bis vor einigen Jahren war ich noch Mathematiklehrer. Jetzt mache ich den Laden hier, - für meinen Lebensunterhalt.“

Er fragt uns, was wir für sie tun können und zuckt nur müde mit den Achseln, als wir ihm erzählen, dass wir unsere Erfahrungen in der Westbank anderen durch Berichte und Vorträge zugänglich machen wollen. „Wird das etwas ändern?“ fragt er resigniert. Ich weise darauf hin, dass der Frieden und die Zweistaaten-Lösung vor allem von der Einigung der beiden Konfliktparteien Israel und Palästina zustande kommen muss. Aber dass Israel keinen Frieden will, darin sind sich die beiden Männer absolut einig. „Sie kommen immer als Soldaten hierher und jagen uns als Terroristen. Für sie sind wir keine Menschen.“
Graffiti in Al Fawwar
Auch die beiden weisen auf die Tötungen der jungen Männer von 2013 und 2014 hin. Zum Schluss wirkt es fast, als wollten sie uns loswerden und ich habe das Gefühl, dass meine Bemerkung von der eigenen Anstrengung für den Frieden nicht gut angekommen ist. Dieser Besuch hat uns wie ein Stück aus dem Lehrbuch alle Aspekte des palästinensischen Narrativs des Konflikts aufgezeigt: Das Motiv des Schlüssels, den alle angeblich noch zu ihren Häusern haben, die Konterfeis der Erschossenen an den Wänden, deren Sterben - zusammen mit der Vertreibung und allen Ungerechtigkeiten der Besatzung - unauslöschlich an die nächste Generation weitergegeben wird, der Zusammenhalt der Familienclans und die gleichzeitige Enge und soziale Kontrolle, die dadurch entsteht und nicht zuletzt die resignative Haltung gegenüber der eigenen Situation und der Hass auf Israel. 
Das Schlüsselmotiv als Symbol der Rückkehr aller Flüchtligne als Graffiti
Als uns unser Fahrer wieder abholt und wir den beiden Männern, die wieder vor dem Laden sitzen, zuwinken, fühle ich mich wie ein Wesen vom anderen Stern, das nach einem kurzen Besuch wieder in ihr Raumschiff steigt und diese bedrückende Welt verlässt. Sie bleiben mir als Bild einer lebenslangen Wartesituation auf bessere Zeiten im Gedächtnis, während wir einfach ins Auto steigen und wegfahren können. 
Frau Khoulod vor der von den Flüchtlingen erträumten Palästinakarte

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen